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Zu Besuch in der alten Heimat

von Heidrun Martini, geb. Wagner

Bereits im Sommer sprachen mein Partner Heinz und ich immer wieder über eine Fahrt in die alte Heimat und fragten schließlich meine Eltern Gerda und Heinz Wagner, ob sie Lust hätten mitzufahren. Meine Mama Gerda (85 Jahre alt) zögerte zunächst, mein Papa Heinz (89 Jahre alt) war sofort Feuer und Flamme. Eigentlich wolle er die Reise erst 2022, zu seinem 90. Geburtstag machen, meinte er. Da der gesundheitliche Zustand und der Impfstatus von Beiden zur Zeit so gut sind, fiel die Entscheidung, die Reise doch noch in diesem Herbst machen zu wollen, recht schnell und einstimmig. Seit sie sich für die Reise entschieden hatten, sagten sie immer wieder: „Das wird unsere letzte Reise in die alte Heimat“. Entsprechend emotional wird sie wohl für uns alle werden. Und auch die To-do-Liste mit den Dingen, die sie sehen bzw. erleben wollen, wird lang und länger.

Am 29. September 2021 ist es dann soweit. Mein Opel Astra ist schnell gepackt. Abends 18 Uhr starten wir bei leichtem Nieselregen in Ludwigsburg. Geplant ist eine 16-stündige ‚direkte‘ Nachtfahrt nach Rumänien (der Vorschlag einer Zwischenübernachtung in Budapest wurde bereits bei der Reiseplanung von den Eltern abgelehnt). Na dann, auf geht's! Gerda und Heinz haben es sich auf der Rückbank gemütlich gemacht und wir ‚Junge‘ sitzen vorne und wechseln uns beim Fahren unterwegs ab. Es läuft alles entspannt und reibungslos. Ich staune, wie gut meine Eltern, die doch recht lange Reise (16 Stunden) durchhalten. Sie sind am Ende fitter als wir – kein Wunder, haben sie doch die meiste Zeit der Reise schlichtweg verschlafen.

Am 30.9. um 9 Uhr erreichen wir nach einer problemlosen Fahrt Deva, unsere erste Station in Rumänien. Unsere Verwandtschaft (Witwe, Kinder und Enkelkind meines zu früh verstorbenen Cousins Joky – Sohn von Martha, der Schwester meines Vaters) erwartet uns bereits mit einem reichlich gedeckten Frühstückstisch. Sakuska und Vinete Brotaufstrich, Schinken, Gogoşari, Burduf und Telemea-Käse, selbst gemachte Feigenmarmelade – alles Leckereien, die wir gern nach der langen Fahrt genießen. Erinnerungen werden ausgetauscht. Auf dem Friedhof gedenken wir etwas später der lieben Verstorbenen.

Nach dem Mittagessen setzen wir die Fahrt Richtung Burzenland fort. Auf der neuen Autobahn kommen wir gut voran. Ab Hermannstadt geht es dann etwas langsamer auf der viel befahrenen Landstraße weiter, da das Autobahnstück zwischen Hermannstadt und Kronstadt noch im Bau ist.

Mein Partner Heinz Zeides (stammt ursprünglich aus Zeiden) hat uns eingeladen, in seinem Elternhaus in Zeiden zu wohnen. Das freut uns natürlich sehr und wir nehmen die Einladung gerne an. Wir haben uns vorgenommen, in diesen besonderen Zeiten (trotz Impfung) mit Kontakten besonders vorsichtig zu sein… Das wird eine Herausforderung, da meine Eltern auf ihrer To-do-Liste neben den Orten ihrer Kindheit und Jugend auch etliche Besuche bei alten Bekannten draufzustehen haben. Und damit fangen wir auch am nächsten Tag gleich an ...


1. Oktober - Am ersten Tag im Burzenland geht es nach Rosenau, dem Geburtsort meiner Mama Gerda. Wir staunen über das gute Gedächtnis von Gerda und Heinz. Bei (fast) jedem Haus an dem wir in Neustadt und Rosenau vorbei fahren, wissen sie wer dort früher gewohnt hat, mit Namen und passender Familiengeschichte. Respekt! Sie wiederum staunen in Rosenau über den komplett umgebauten, neu gestalteten Marktplatz.

Auch ein Rund­gang über den Friedhof weckt viele Erinnerungen an längst verstor­bene Verwandte, Bekannte, Freunde und Nachbarn.

Sehr emotional ist für Gerda der wohl letzte Besuch der elterlichen Gruft.

Wir fahren noch ein wenig durch die Straßen von Rosenau. Wir können uns noch lebhaft an frühere Musikfeste auf der ‚Promenade‘ erinnern. Wenn wir schon hier sind, wollen wir natürlich auch sehen, wie es dort heute aussieht. Wir sind erfreut und positiv überrascht, dass es dort nun eine schöne, gepflegte Wiese mit Grillstellen, Pavillons, Spazierwegen, Bänken und einem Teich gibt. Sogar die alte Quelle gibt es noch.

Ein verspätetes Mittagessen nehmen wir im ehemaligen Acapulco (hinter der Burg) ein. Jetzt heißt es ‚Sergiana‘ und ist ein sehr empfehlenswertes Lokal mit leckeren einheimischen Gerichten. Die Mici sind heute ein Muss.

Vom ehemaligen Freibad nebenan ist leider nur noch eine Schuttgrube übrig. Schade, da haben früher viele Kinder aus Rosenau und Umgebung schwimmen gelernt, auch meine Mama und ich.

Als begeisterte Wintersportfans wollen Gerda und Heinz natürlich die neuen Skisprungschanzen von Rosenau sehen. Die Anlage ist mit vier Schanzen und einem Sessellift größer und moderner als gedacht. Wir dürfen sogar den Nachwuchs-Skispringern beim Sommer-Training zuschauen. Nachdem die Bahnen gewässert wurden, wird gesprungen. Es ist schön live zuzuschauen, die richtige Wettkampf-Atmosphäre im Winter können wir allerdings nur erahnen.

Auf der Heimfahrt nach Zeiden machen wir spontan einen Zwischenstopp in Neustadt beim Elternhaus meines Vaters Heinz und mir, das Gerda und Heinz in den 1960er Jahren eigenhändig umgebaut und renoviert haben. Wir klopfen ans Tor und oh Wunder, es wir uns aufgemacht. Die freundlichen Mieter empfangen uns mit offenen Armen und führen uns durch Hof und Garten. Die Freude bei Gerda und Heinz ist groß, dass völlig unerwartet ein Besuch im alten Zuhause möglich ist. 2014 während des Heimattreffens in Neustadt waren wir alle schon mal dort. Schon damals und auch heute sehen wir erfreut, dass alles gepflegt und gut in Schuss gehalten wird. Das Obst, der von Heinz selbst gepflanzten Bäume, ist jetzt reif und wir dürfen probieren.

Die Birnen vom alten Baum im Garten und im Hof, sowie die Weintrauben am Haus schmecken immer noch so köstlich wie früher ... Auch hier werden viele Erinnerungen wach. Ebenso beim anschließenden Rundgang über den Neustädter Friedhof mit seinen sehr schön gepflegten Gräbern und Gruften.

Am nächsten Tag ist Gartenarbeit und Erholung im Hof von Heinz in Zeiden angesagt. Die Weintrauben wollen geerntet werden. Meine Eltern packen fleißig mit an, denn wir wollen ja den neuen Traubenmost noch während des Urlaubs in das Fass bringen. Zum Mittagessen grillt mein Partner Heinz einen ‚Flecken‘ und Mici. Sehr lecker!!!

So lässt sich Urlaub bei herrlichem Herbstwetter wunderbar genießen.

3. Oktober - der einzige Sonntag unseres Aufenthalts in Siebenbürgen – Wir besuchen um 10 Uhr den Gottesdienst in Neustadt und um 11:30 Uhr den Gottesdienst in Rosenau. Beide Male gibt es für Gerda und Heinz große Wiedersehensfreude mit alten Bekannten und hier und da ein kleines Schwätzchen. Und natürlich ist es auch sehr emotional für sie und uns, mal wieder einen Gottesdienst in der alten Heimatkirche feiern zu dürfen. Pfarrer Uwe Seidner und Hanjo Krämer, Jugendmitarbeiter bei der Partnergemeinde Berlin-Schönefeld und zur Zeit zu Gast in Wolkendorf, gestalten die Gottesdienste. Im Anschluss daran werden jeweils Gruppenbilder mit den Anwesenden geschossen.

In Rosenau wird Erntedankfest gefeiert. Die Kirche ist sehr schön mit den Gaben des Herbstes geschmückt, was dem Gottesdienst einen festlichen Rahmen verleiht.

Auffällig ist, dass in beiden Kirchen alte Kulturgüter ausgestellt sind.

In Neustadt steht neben alten gemalten Möbelstücken das (modernisierte) ‚Fosendichrad‘ (Faschingsrad), das früher zur Faschingszeit von einigen Konfirmanden durch die Gemeinde gezogen wurde, während andere Jungs mit dem ‚Klingelbeutel‘ Münzen als Spende von den Zuschauern einsammelten – erinnert ihr euch???

In der Rosenauer Kirche ist eine Ausstellung mit alten Musikinstrumenten, Erinnerungsstücken und mit vielen verschiedenen Trachtenpuppen in einer kleinen, sächsisch eingerichteten und mit Stickereien geschmückten Stube zu sehen.

Zum Mittagessen fahren wir in die Schulerau. In der urigen ‚Coliba Haiducilor‘ lassen sich Gerda und Heinz eine leckere Ciorba schmecken.

Bei herrlichem Herbstwetter genießen wir bei der Abfahrt nach Kronstadt und dem anschließenden Spaziergang unterhalb der Zinne immer mal wieder den tollen Ausblick auf die Kronstädter Altstadt. Auch hier erinnert Gerda und Heinz viel an Früher. Gerda erzählt davon, dass sie einige Zeit während ihrer Schulzeit in Kronstadt hier in der Nähe gewohnt hat.

4. Oktober – An diesem Tag feiern unsere Eltern Gerda und Heinz Wagner ihrem 62. Hochzeitstag. Herzlichen Glückwunsch!!

Gibt es denn für sie einen schöneren Ort als diesen, ihren Jubeltag in der alten Heimat zu feiern? Ich denke nein. Heute sind sie nacheinander zu Besuch bei Adele Porr, Erika Tittes und Klaus Copony in Neustadt. Natürlich gibt es viel zu erzählen. Stolz erzählen sie immer wieder von ihren drei Enkelkindern und drei Urenkeln.

Den besten Burduf Käse gibt es nach Ansicht von Heinz in Bran direkt vom Erzeuger zu kaufen. Also auf geht's nach Bran. Schließlich möchten sie auch in Deutschland noch Köstlichkeiten aus der alten Heimat genießen können. Natürlich darf ein leckerer Bulz (Käsepalukes) zum Mittagessen nicht fehlen.

5. Oktober – 14:30 Uhr treffen sich ein paar Neustädter auf dem Friedhof um Richard Boltres (Lieser Rick), einem Vetter von Heinz, zu gedenken, der zu jener Stunde in Deutschland zur letzten Ruhe getragen wird. Als die Heimatglocken von Neustadt für den Verstorbenen läuten, ist es für alle Anwesenden ein sehr ergreifender Moment. Auch beim anschließenden gemeinsamen Rundgang über den Neustädter Friedhof werden mit den Anwesenden Erinnerungen ausgetauscht.

6. Oktober – Heute genießen wir das schöne Herbstwetter, um einen tagfüllenden, herrlichen Ausflug zu machen. Auf der Transfogarascher Hochstraße geht es von Süden nach Norden über das Fogarascher Gebirge. Gerda musste 85 Jahres alt werden und aus Deutschland zu Besuch kommen, um diesen Ausflug zu machen. Auch ich war bisher noch nie dort gewesen. Also höchste Zeit für uns, dieses schöne Fleckchen Natur kennen zu lernen.

Wir fahren vorbei an Bran über Rucăr in das Karpatenvorland. Der Königstein zeigt sich in seiner vollen Pracht, der Wald färbt sich bunt. Es ist wunder- schön! Gerda und Heinz lassen sich durch die Gegend fahren und genießen die Landschaft. Unsere erste Station ist Vidraru, der Staudamm und Stausee am Argeş.

Auf der Weiterfahrt begegnet uns eine haarige Überraschung! Eine Braunbärin posiert mit ihren zwei Jungen am Straßenrand. Die Jungen nähern sich vorsichtig den Autos mit den fotografierenden Touristen. Ein Junges stellt sich für uns sogar auf die Hinterbeine. Die Bärin beäugt alles aus Schlagdistanz. Auch wir bleiben im Auto und auf Abstand.

Die Transfogarascher Hochstraße schlängelt sich im Süden hoch auf 1690 m, bevor es dann durch einen Tunnel auf die Nordseite geht. Danach stockt uns der Atem zum einen, aufgrund er landschaftlichen Schönheit, die sich plötzlich nach dem Tunnel auftut - wir sind am Bâlea See auf 2034 m über dem Meeresspiegel - zum anderen aufgrund des starken Windes, der uns hier fast den Atem nimmt, als wir am See aus dem Auto steigen. Gerda und Heinz sagen übereinstimmend, dass sie noch nie in ihrem Leben so einen starken Wind gespürt haben - und das will mit fast 90 Jahren etwas heißen ...

Wir genießen den herrlichen Ausblick auf die umliegenden steilen Gebirgshänge, die mal in der Sonne leuchten und im nächsten Moment von Nebeln verhüllt sind und den Bâlea-See, den sie so wunderschön einbetten. Meine Eltern wärmen sich in der Hütte bei einem Tee auf. Heinz und ich laufen noch etwas herum. Emotional wird es für mich, als wir an der Gedenk-Plakette für die am 17.04.1977 von einer Lawine verschütteten Unfallopfer stehen. Sie hängt gut sichtbar an einem Fels oberhalb vom See. Einige dieser Opfer habe ich persönlich gekannt ... zwei Schulfreundinnen vom Pädagogischen Gymnasium aus Hermannstadt, sowie unsere Sportlehrerin waren auch unter den Verschütteten.

Vor der Abfahrt genießen wir noch den Ausblick auf die sich ins Tal schlängelnde Serpentinenstraße, die wir in Kürze auf der nördlichen Seite des Fogarascher Gebirges Richtung Freck (Avrig) fahren werden. Herrlich!! Zum Abschluss des Tages essen wir unterwegs in Albota einen leckeren Fisch.

7. Oktober - wir fahren noch ein Mal nach Rosenau um dort Heide Petica (eine Cousine 2. Grades von mir, bzw. Tochter von Paul-Heinz Fallschessel, einem Vetter meiner Mama) zu besuchen, die zur Zeit mit viel Liebe, Geduld und Fleiß das Haus ihrer Großeltern in der Kirchgasse renoviert – ein Mammutprojekt, und es gibt noch viel zu tun. Mama erinnert sich, dass sie in ihrer Kindheit oft hier im Haus, Hof und Garten mit ihren Fallschessel Vettern und Cousinen herumgetollt ist.

Im Vorbeifahren machen wir noch Halt beim Elternhaus von Mama in der Langgasse 39 – es wurde renoviert und sieht nun ganz anders aus. Auch in der Langgasse 57 in Neustadt, vor dem Elternhaus meines Vaters machen wir kurz Halt. Das sieht noch fast so aus wie früher.

Neustadt hingegen hat sich im Laufe der Jahre stark verändert. Es fällt uns auf, dass in der Langgasse kaum noch Bäume stehen. Das neue Industriegebiet entlang der Straße Richtung Kronstadt und Weidenbach wächst jedes Jahr weiter. Im Gegenzug muss man alte, bekannte Naturfleckchen, wie die alten Eichen oder den ‚Öifzgorten‘ (Obstgarten) suchen. Auch die neuen Straßen und Siedlungen an der Wolkendorfer Straße verändern das Ortsbild. Auffällig ist auch, dass deutlich weniger Autos durch Neustadt fahren – die neue Autobahn (von Kronstadt nach Bukarest über Predeal) führt an Neustadt vorbei und entlastet Rosenau und Neustadt vom Durchgangsverkehr. Veränderungen sind auch hier überall sichtbar.

Zurück in Zeiden besichtigen wir noch das örtliche Museum neben der Kirche. Es ist ein sehr liebevoll gestalteter und gut gelungener Einblick in die Geschichte Zeidens und seiner Bewohner von einst. Besonders beeindruckt hat meine Eltern und mich das mit viel Liebe zum Detail eingerichtete sächsische, rumänische und ungarische Zimmer. Und was haben wir abends immer gemacht? Jeden Abend haben wir das gute alte Rummy ausgepackt und ein paar Stunden mit viel Spaß Raub-Rummy gespielt.

8. Oktober – heute heißt es Abschied nehmen von Zeiden, Neustadt, Rosenau, vom Burzenland und seinen so vertrauten Bergen, von der alten Heimat. Wir treten die Rückreise an und erreichen nach 16 Stunden wohlbehalten unsere neue Heimat Ludwigsburg.









Es war eine sehr schöne und emotionale 10-tägige Reise mit meinen Eltern – eine Reise in die Vergangenheit, voller Erinnerungen und Geschichten. Danke, dass wir das alles zusammen erleben durften!!



Winterausgabe 2021 der Neustädter Nachrichten (Nr. 219)